Kategorien Prof. Dr. Sabine Giesbrecht ➔ 02. Lieder und ihr Umfeld ➔ 2.3 Populäre Lieder, Schlager und Gedichte ➔ 2.3.2 Operette, Oper und Schlager ➔ 2.3.2.2 Mignon


Beschreibung


Mignon ist eine Figur aus Goethes Roman „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ (1795/96), ein junges „sonderbares“ Mädchen von rätselhafter Herkunft, das zeitweise im Knabenhabitus erscheint, aber auch in Mädchenkleidern und mit langen schwarzen Locken auftritt. Als Kind von Seiltänzern geraubt und verschleppt, kann sie niemandem mehr vertrauen. Ein Geheimnis scheint um sie zu liegen und eine Aura rätselhafter Sehnsucht, wovon die meisten Abbildungen zehren. 

Mignon und ihre Lieder waren nicht nur als Erscheinungen im Goethe-Roman, sondern auch in anderen Medien ausserordentlich beliebt. Als Zudrucke sind (nach dem Archivstand von VI/2007) auf den Bildpostkarten in erster Linie zwei der Gedichte aus Wilhelm Meister zu finden: „Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn“ (3. Buch, 1. Kap.) und „Nur wer die Sehnsucht kennt, weiß was ich leide" (4. Buch, 11. Kap.). Zwei Notenzitate von „Kennst du das Land“ (2_3_2_2-001 und -002 beziehen sich auf die Vertonung durch Ludwig van Beethoven (Nr 1 aus: 6 Gesänge Opus 75). Franz Schubert wird als Komponist von „Nur wer die Sehnsucht kennt“ genannt (3_3-071). Viele Musiker, unter anderem Johann Friedrich Reichardt, Robert Schumann, Hugo Wolf oder Carl Friedrich Zelter haben die beiden Gedichte vertont. Um 1900 wurde die Oper „Mignon“ (1866) von Ambroise Thomas populär (2_3_2_2-003 bis –005), in der das Zigeunermilieu wichtig ist und wo es – abweichend vom Roman – zu einem Happy-End kommt. Ebenfalls von der Roman-Vorlage (Zither, Schellentrommel) abweichend wird Mignon auf der Postkarte vorwiegend mit einem Lauteninstrument (Serie 2_3_2_2-025 ff; Bild –024 eventuell eine Mandoline) oder einer Gitarre dargestellt. 

Die Karten zeugen insgesamt von der Popularität der Mignonfigur, die schön, geheimnisvoll, als Inbegriff schmerzhafter Kindheitserinnerungen und dunkler Sehnsucht – auch ohne Text- oder Notenzitate - offenbar die Käufer anzusprechen vermochte. Typisch ist der verlorene oder sehnsüchtig nach oben gerichtete Blick in die Ferne (2_3_2_2-008, -023, -024), verbreitet auch die Pose der Betrübtheit mit gesenktem Haupt (2_3_2_2-044). Die im Roman beschriebene Androgynität der Mignon wird auf den Postkarten seltener wiedergegeben. Nur in einem Fall trägt sie kurzes Haar und wirkt dekorativ zerlumpt und burschikos (2_3_2_2-012–013); sonst erscheint sie durchweg als attraktive junge Frau mit wallendem Langhaar (2_3_2_2-014, -017, -018). Mit verschlissener Kleidung (2_3_2_2-020) erinnert sie an ihr Leben bei Schaustellern; sie ist aber auch folkloristisch-adrett (2_3_2_2-003, -021) oder barfuß (2_3_2_2-003, -007), mit weißer Carmenbluse, um die Hüfte geschlungenem Stoff (2_3_2_2-010) und Kopftuch dargestellt. Obligatorisch ist offenbar das Bündel, das sie als im Land Umherziehende ausweist. Den Hintergrund bilden vielfach die freie Natur oder eine südlich anmutende Landschaft (2_3_2_2-001) und Architektur (2_3_2_2-014, -015).

Das Alter der Mignon – dem Roman zufolge etwa zwölf bis dreizehn – inspirierte Fotografen und Kartenproduzenten dazu, Kinder oder Kindfrauen abzubilden (2_3_2_2-031 bis –034).

Die Zeile „Nur wer die Sehnsucht kennt“ erscheint auch isoliert vom Goetheschen Original, etwa als Symbol der Verbundenheit auf Postkarten des Ersten Weltkrieges (2_3_2_2-035, -046 sowie 11_2_2-024 oder 13_4_1-024 und -025) oder häufig auch als Karikatur (vgl. 11_2_2-022, -023 oder 2_3_2_2 -036, -045). „Kennst du das Land“ hingegen symbolisiert die Sehnsucht nach Italien oder anderen südlichen Ländern. Else Ury benutzt einige Zeilen als Versatzstück im Roman „Nesthäkchens Jüngste“ ( Kap. 15, Das erste Konzert).
(Friederike Ramm)

Literatur: Jutta Assel, Georg Jäger: Goethe-Motive auf Postkarten. Eine Dokumentation. Wilhelm Meisters Lehrjahre, Mignon und der Harfner. In: http://www.goethezeitportal.de/index.php?id=256 , Stand Februar 2004.
Vertonungen: Willi Schuh: Goethe-Vertonungen, ein Verzeichnis, bearbeitet für den 2. Band der Gedenkausgabe der Werke, Briefe u. Gespräche Johann Wolfgang Goethes, Zürich 1952, S. 44 u. 51. 

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